Stephanie Schiller

3. Preis - Kategorie: Erwachsene

„Gummistiefelweg"

Seit Wochen liegen auf einer Wiese, ein Stück weit weg von dem Weg, der in den Wald führt, ein Paar große, dreckige Gummistiefel. Normalerweise kommt hier kaum jemand vorbei, die Stelle ist abgeschieden und auch ich kenne sie nur, weil mich die täglichen Gassirunden mit meinem Hund Lex daran vorbeiführen. Wir genießen beide die absolute Ruhe und Menschenleere in diesem Teil des Naturschutzgebietes.

Das erste Entdecken der Stiefel verwunderte mich zwar, jedoch maß ich ihnen erst einmal keine allzu große Bedeutung bei, obgleich ich es schon sehr seltsam fand. Als das Stiefelpaar aber nach Wochen noch immer und scheinbar unberührt in der Wiese lag, überkam mich die Neugier nach deren Herkunft und der Bewandtnis ihres Zurücklassens. Ich konnte nicht umhin, die beiden Schuhe gründlicher in Augenschein zu nehmen, denn es hatten sich unzählige Fragen bei meinen zwischenzeitlichen Spaziergängen aufgetan, Gedankenspiele in alle Richtungen entwickelt. Eines glaubte ich sicher zu wissen, es handelte sich wohl um das Schuhwerk eines Trägers und nicht um das einer Trägerin, zumindest unterstellte ich das bei der deutlich sichtbaren Beschriftung mit der Zahl 49 auf der Sohle. Aber wer genau war der Mann, warum war er hier und vor allem, warum entledigte er sich der Gummistiefel, gerade jetzt im nasskalten März, wahrlich keine Zeit, um den Weg barfuß weiter zu gehen. War ich womöglich einem Verbrechen auf der Spur? Hätte ich nicht schon längst die Polizei einschalten müssen, habe ich womöglich durch meine Neugier spurenrelevante Hinweise vernichtet? Hatte ich mich selbst durch das Unterlassen einer zeitnahen Meldung strafbar gemacht?

Allen negativen Gedanken zum Trotz beschloss ich, mir die Stiefel jetzt ganz genau anzusehen, wenn ich mich tatsächlich etwas schuldig gemacht hatte, dann bräuchte ich jetzt auch nicht in blinden Aktionismus verfallen, beruhigte ich mich selbst und mein doch etwas schlechtes Gewissen.

Ich hob die Stiefel auf und betrachtete sie mir von außen mit penibler Sorgfalt; es waren handelsübliche, einfache, dunkelgrüne Exemplare, die bisher wohl selten getragen wurden, zumindest entnahm ich diese Tatsache den fast noch neu wirkenden Sohlen. Doch beim tieferen Griff in den rechten Stiefelschaft spürte ich etwas Unerwartetes, erschrocken ließ ich den Stiefel erst einmal fallen, um ihn kurz darauf mittels eines Holzstöckchens, welches mir just in diesem Augenblick mein Lex eigentlich zum Spielen aus dem naheliegenden Waldstück gebracht hatte, wieder anzuheben. Ich führte den hölzernen Stock in den Stiefelschacht und schob so den Stiefel senkrecht nach oben. Der vorher gespürte Inhalt fiel in die Wiese und ich staunte nicht schlecht: Ein Brief, geschützt - wohl vor Nässe - in einer Klarsichthülle verpackt und ein kleiner, silbern glänzender Schmuckanhänger in Form eines Engels kamen zum Vorschein. Sollte ich den Brief nun tatsächlich lesen? Ganz offensichtlich war dieser ja nicht an mich adressiert.

Ich konnte nicht anders und begann mit der Lektüre, da stand in gut lesbarer Schreibschrift: An den Finder dieser Stiefel; es macht mich glücklich, dass du dir trotz der Abgeschiedenheit des Fundortes ganz offensichtlich die Mühe gemacht hast, meine Stiefel zu inspizieren. Vielleicht hat es eine Weile gedauert, bis du diese Zeilen gefunden hast, wahrscheinlich hast du dir auch Gedanken darüber gemacht, warum diese Stiefel ausgerechnet hier liegen, wer sie wohl an diese Stelle verbracht hat und so vieles mehr. Du möchtest sicher wissen, was es mit diesen Fundstücken auf sich hat. Gerne will es dir gerne erklären: Diese Stiefel sind Teil eines Experimentes, welches ich im November 2016 begonnen habe. Angesichts des immer oberflächlicher und egoistischer werdenden Umgangs, den wir Menschen miteinander „pflegen", möchte ich mit ganz alltäglichen Dingen, die ich mehr oder weniger offensichtlich platziere, ermitteln, ob und wenn ja, welche Beachtung diesen geschenkt wird. Da du diesen Brief liest, bist du offensichtlich ein Mensch, der sich für seine Umwelt interessiert und vielleicht sogar weit darüber hinaus auch um das Wohl anderer. Aus diesem Grund habe ich dir einen kleinen Engel als „Finderlohn" zu diesem Brief gepackt. Möge er so auf dich achten, wie du es offenbar auf Veränderungen in deiner Umgebung und auf andere Menschen tust. Wenn du magst, rufe mich doch bitte an und erzähle mir DEINE Geschichte der Gummistiefel. Du erreichst mich telefonisch unter +49 12345. Ich bin sehr gespannt und freue mich schon - während ich diesen „Finderbrief verfasse - sehr auf deinen Anruf. Herzlichst Maximilian

Da stand ich nun und war den Tränen nahe. Einerseits, weil mir ein großer Stein vom Herzen gefallen war, dass sich meine trüben Gedanken hinsichtlich eines Verbrechens nicht bewahrheitet hatten, andererseits, war ich übermannt von Maximilians großartiger Idee. Ich drückte meinen Lex, der noch immer wartend neben mir stand, warf ihm das Stöckchen zum Spiel und schob Brief samt Engel in meine Jackentasche wohlwissend, dass ich Maximilian umgehend anrufen würde. Und die Gummistiefel? Die werde ich mit einem Finderbrief und einem Engelsanhänger neu befüllen und irgendwo ganz „zufällig" liegen lassen......